Textil ist der Werkstoff, aus dem die Zukunft gebaut wird. Zu diesem Ergebnis kommt die soeben erschienene Zukunftsstudie „Perspektiven 2035“. In einem zehnmonatigen Prozess hat das Forschungskuratorium Textil zusammen mit Partnern aus Forschung und Industrie im Detail analysiert, wie sich die Textilbranche bis zum Jahr 2035 in Deutschland entwickeln kann.
textil+mode sprach mit Johannes Diebel, Leiter des Forschungskuratoriums Textil
Das Interview als Video auf YouTube ansehen
t+m: Herr Diebel, vor uns auf dem Tisch liegt die druckfrische Ausgabe Ihrer Studie. Was ist denn das Besondere?
Diebel: Es ist uns gelungen, im Konzert von Wissenschaft, Experten und Praktikern eine Art Leitfaden für die Zukunft unserer Industrie zu entwickeln. Durch die immer schnelleren Informationen, die in Echtzeit um die ganze Welt gehen, wird es immer schwieriger, sich auf die wirklich wichtigen und für die Industrie erfolgversprechenden Innovationen zu konzentrieren. Das ist uns meiner Ansicht nach gelungen.
t+m: In welchen Bereichen hat Sie die Zukunftsstudie denn überrascht?
Diebel: Mich hat überrascht, dass wir ganz offensichtlich in der Entwicklung und Forschung unserer Zeit voraus sind. Alles, was derzeit unter dem Motto „Green Deal“ diskutiert wird, können wir mit dem Werkstoff Textil umsetzen. Wir können Luft und Wasser filtern und säubern, wir können CO2 in Textilien binden, wir können der textile Acker sein, auf dem Lebensmittel angebaut werden. Wir können aber auch Leben retten durch Smart Textiles, die in der Pflege oder bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen den Gesundheitszustand per EKG-Unterhemd an den Arzt oder Pfleger elektronisch weitergeben. Und wir können auch bei Bekleidung Lösungen für eine kluge Kreislaufwirtschaft oder für Textilien aus nachwachsenden Rohstoffen anbieten.
t+m: Das muss der Kunde am Ende aber auch haben wollen.
Diebel: Hier hat unsere Studie die klare Erkenntnis erbracht, dass das Thema Nachhaltigkeit in den kommenden Jahrzehnten zu vielen neuen Geschäftsmodellen führen wird, weil aus Nischen neue Märkte werden. Und im Bereich der technischen Textilien werden wir in ganz vielen Lebensbereichen mit neuen Innovationen, den Alltag und die Arbeitswelt von Menschen weiterentwickeln. Hier sind wir als deutsche Textilindustrie Weltmarktführer. Mit der Digitalisierung können uns unsere Mitkonkurrenten aber jederzeit überholen und deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Zukunftsbereiche jetzt definieren, um auch unsere Textilforschung auf diese Bereiche zu fokussieren.
t+m: Die Textilindustrie in Deutschland ist stark mittelständisch geprägt, es gibt viele Unternehmen, die schon zwei, drei oder mehr Generationen in Familienbesitz sind. Wie innovationsstark ist eine so stark gewachsene Branche.
Diebel: Wenn die deutsche Textilindustrie nicht innovationsstark wäre, hätte sie die gewaltige Transformation durch die Verlagerung der Bekleidungsproduktion vor allem nach Asien nicht so gut bewältigt. Und auch dort, wo deutsche Marken im Ausland nähen lassen, heben sie die Standards und sorgen für Arbeit und Wohlstand. Im Verbund mit unseren 16 textilen Forschungsinstituten können wir aber nicht nur ein starker Partner für unsere traditionelle Textilindustrie sein, sondern auch Lösungen für viele andere Industriezweige entwickeln. Unsere Zukunftsstudie bietet eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten, die vom Bau über die Medizin bis in viele Fragen der Umwelt- und Energietechnik anwendbar sind.
t+m: Ist diese Jacke nicht etwas groß, die sich Textil da anzieht?
Diebel (lacht): Wer hier noch Zweifel hat, dem empfehle ich die Lektüre unserer Zukunftsstudie. Textil ist der Werkstoff, aus dem die Zukunft ist. Und spätestens mit unserer zehnmonatigen Arbeit an unserem Projekt Perspektiven 2035 ist uns allen klar geworden, dass uns die eigentliche Arbeit jetzt erst bevorsteht. Wir müssen die Entwicklungen unserer Forscher in die Anwendung bringen und unsere Forscher müssen wissen, in welche Richtung sie weiterarbeiten, also aus welchen Innovationen die Geschäftsmodelle der Zukunft sind. Was sich so leicht anhört, ist jedes Mal ein langer und schwieriger Weg. Diesen Weg müssen wir verkürzen, um weiter Weltspitze zu sein. Deshalb ist unsere Studie eine so wertvolle Basis für unsere zukünftige Arbeit. Sie gibt uns einen Kompass für die Forschung, aber auch für die Strategien der Industrie.
t+m: Haben Sie denn persönlich eine Zukunftsvision bei der Arbeit an der Studie entwickelt?
Diebel: Wir wollen und wir können als Forschungskuratorium Textil nicht nur die Nahtstelle der projektbezogenen Forschung sein, sondern als textile Denkfabrik auch Impulse setzen, die allen zu Gute kommen. Eine so verstandene Zukunftsforschung nutzt unserer mittelständischen Industrie.
t+m. Herr Diebel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Finden Sie hier weitere interessante Inhalte