Faktencheck: Textilien – ein Stoff für alle Fälle

Textilien sind sehr viel mehr als Bekleidung. Sie sind ein Vielzweckmaterial, das viele technische Produkte erst möglich macht. Die Einsatzgebiete reichen vom Flugzeugbau bis zu medizinischen Produkten, die es ohne Fasern, Garne, gewebte oder gestrickte Textilien nicht gäbe.

26.05.2023

Viele Menschen dürften beim Thema „Textil“ zunächst an Bekleidung denken. Denn damit haben wir im Alltag am ehesten zu tun. Für die deutsche Industrie aber haben Textilien noch eine ganz andere Bedeutung: Rund zwei Drittel aller textilen Produkte, die hierzulande hergestellt werden, sind technische Textilien, die in vielen verschiedenen Branchen zum Einsatz kommen. So besteht zum Beispiel der Kern von Autoreifen aus einem Textilgeflecht. Die mehr als 70 Meter langen Flügel von Windrädern werden aus hochfesten Kohlenstoff-Fasern gefertigt, und medizinische Stents, mit denen man verengte Blutgefäße weitet, bestehen aus filigran geflochtenem Hightech-Garn. Textilien machen viele Produkte erst möglich. Sie sind der Problemlöser schlechthin, wenn man mit anderen Werkstoffen nicht mehr weiterkommt, weil sie einige besondere Eigenschaften in sich vereinen: Sie sind extrem leicht und trotzdem strapazierfähig. Sie sind robust, lange haltbar und oftmals rohstoffsparender als massive Materialien.

 

Deutschlandweit gibt es allein 16 Forschungsinstitute, die auf Textilien spezialisiert sind. Jährlich bringen sie es auf rund 150 Patentanmeldungen. Rund 3 000 Forschungsprojekte laufen dort derzeit, davon der Großteil in Zusammenarbeit mit der Industrie. „Das Ergebnis dieser Forschung sind Neuentwicklungen, die ein neues technisches Produkt erst möglich machen“, sagt Professor Thomas Gries, Leiter des Lehrstuhls für Textilmaschinenbau an der RWTH Aachen. „Das Textil ist Teil eines technischen Systems, das meist in Zusammenarbeit mit Firmen und Instituten aus anderen Branchen entsteht. Wir Textilexperten sind damit vor allem auch Systemversteher.“ Ein aktuelles Beispiel ist ein Airbag für Bauarbeiter. Autoairbags fallen – anders als in Action-Filmen – schon wenige Milli-Sekunden nach dem Aufprall wieder in sich zusammen. Stürzt ein Bauarbeiter aus größerer Höhe ab, muss der Airbag die Luft länger halten. Ein weltweit führender Airbag-Weber entwickelte die Airbaggeometrie und -Beschichtung, die schützt und die länger die Luft hält. Ein deutsches Elektronikunternehmen entwickelte die Steuerung und den Gasgenerator. Die Experten von der RWTH machten daraus ein marktreifes Produkt. Es gibt etliche solcher Lösungen, die Deutschland zu einem wichtigen Standort für die Entwicklung technischer Textilien machen. Dazu gehören Hochleistungsmembranen für Elektroauto-Batterien und Brennstoffzellen, Spezialfasern für Hitzeschutzanzüge von Feuerwehrleuten oder hochwertige Filter, die Wasser und Luft reinigen.

 

Wie mithilfe von Textilien ganz neue Produkte entstehen, zeigt auch ein neuentwickeltes Spezialtextil, das erkennt, wenn ältere Menschen in ihrer Wohnung stürzen. Dazu werden Sensorfasern aus einem Spezialkunststoff in Textilien eingearbeitet, die sich in Teppichen, am Parkett oder Laminat befestigen lassen. Der Clou besteht darin, dass für einen Raum einige wenige kleine Textilsensoren ausreichen, um Stürze sicher zu detektieren. Der Grund: Spezielle Algorithmen werten die Sensorsignale aus. Ihnen genügen wenigen Daten, um den Sturz sicher zu erkennen. Über einen smarten Lautsprecher verschickt das System dann einen Notruf. In diesem Fall ist das Textil das zentrale Element eines Produkts für das smarte Haus der Zukunft, in dem Textil-Expertise, Elektrotechnik und Informatik zusammenspielen.

 

Die Kreativität der Textilbranche ist derzeit auch gefragt, weil es gilt, die Industrie nachhaltiger und rohstoffsparender zu machen, Produkte vermehrt aus nachwachsenden Rohstoffen herzustellen und Abfälle wiederzuverwerten. Der Green Deal der Europäischen Union und die entsprechenden Regularien geben hier einen festen Rahmen vor. Diese Vorgaben sind für die Textilindustrie und auch für andere Branchen eine Herausforderung. Zugleich aber sind sie eine Chance, weil sie die Entwicklung von Alternativen vorantreiben. Wer zügig Lösungen bietet, hat einen Vorsprung – etwa bei der Produktion von Carbonfasern, die für Fahrradrahmen, Autokarosserien oder Flugzeugbauteile benötigt werden. Bislang werden sie aus dem sehr teuren Werkstoff Polyacrylnitril auf der Basis von Erdöl hergestellt. Als Alternative werden derzeit Carbonfasern aus dem Pflanzenmaterial Cellulose entwickelt. Zwar sind diese Fasern noch nicht auf dem Markt, aber ein Anfang ist gemacht.

 

Etwas weiter sind da bereits die deutschen Hersteller von Spezialfasern für Hygieneartikel wie Tampons, Windeln und Damenbinden, die teils aus synthetischen Fasern bestehen. Die Hersteller haben auf die Vorgaben der EU reagiert. Zum einen entwickeln sie jetzt Einmalprodukte aus bioabbaubaren Fasern. Zum andern setzen sie auf Wiederverwendbarkeit. Zu den Neuentwicklungen zählt wiederverwendbare Periodenunterwäsche als Alternative zur Binde. Darüber hinaus haben ein Textilunternehmen und ein Startup die Mehrwegwindel Sumo entwickelt, die dazu beiträgt, den Windelabfall zu reduzieren – allein in Deutschland pro Tag mehrere Millionen Stück.

 

Darüber hinaus liefern die deutsche Textilindustrie und Forschung immer wieder neue Lösungen für die Bekleidungsindustrie. Schutzkleidung für Feuerwehrleute oder Stahlarbeiter wäre ohne spezielle Beschichtungen und die Zugabe von flammhemmenden Substanzen nicht denkbar. Berufsbekleidung für Ärzte und Pfleger wiederum muss besonders robust ausgelegt werden, weil sie häufig gereinigt und zudem desinfiziert werden muss.

 

Wichtig ist darüber hinaus, dass die Textilbranche Lösungen hervorbringt, um den großen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen, etwa dem Klimawandel und den Lebensbedingungen in den wachsenden Millionenstädten weltweit. So lebt mittlerweile etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Ballungsräumen. Mit negativen Begleiterscheinungen wie der Luftverschmutzung, hohem Verkehrsaufkommen und großem Lärm. Um diese abzumildern haben mehrere Industriepartner in dem Großprojekt „UrbInTex – Green City" ein Textil entwickelt, mit dem sich Hausfassaden großflächig begrünen lassen. So wurden Vliesstoffe produziert, auf denen Pflanzen problemlos wurzeln können. Zudem kann das Material so viel Wasser aufnehmen, dass kaum noch bewässert werden muss. Das sind perfekte Eigenschaften für zunehmend heiße und trockene Sommer.

Natürlich lassen sich die großen Herausforderungen der Zukunft mit Textilien allein nicht lösen. Als „Enabling technology“ aber können sie die Grundlage vieler Lösungen sein.